Im Hinblick auf die theologisch-kirchlichen Aufbrüche in der wachsenden und sich wandelnden Stadt Berlin ist der Neuanfang 1945 ganz ohne Vergleich. Es war eine „Stunde Null“, der vollständige Zusammenbruch, in einer Not und einem Maß an Zerstörung, die wir nur ansatzweise ermessen können. Otto Dibelius berichtete im August 1945, dass „die äußeren Nöte … auf das kirchliche Leben … drücken… Vielfach liege das Gemeindeleben durch Hunger darnieder. Ein Beispiel ist die Stadt Strasburg in der Uckermark. Die Sterbeziffer ist ungeheuer. Halte es weiter so an, so könne man sich ausrechnen, wann die Stadt ausgestorben sein werde. Ein weiteres Beispiel ist der Pfarrer von Wildau, der kürzlich gebeten habe, ihn aus seiner Stelle fortzunehmen, da er es dort nicht mehr aushalten könne. Er habe kleine Kinder, die ihm sterben. Er (Bischof Dibelius) habe ihm sagen müssen, dass er seine Gemeinde nicht verlassen könne. … Propst Grüber ergänzt die Ausführungen dahin, daß der Typhus stark zunähme. … Werde nicht bald Abhilfe geschaffen, so sterbe der Osten aus, da die Seuchen das Land immer mehr überziehen würden. So teilt der Superintendent von Freienwalde mit, daß er in der kurzen Zeit seiner Anwesenheit schon 400 Beerdigungen gehabt habe.“
Es war der vollständige Zusammenbruch des von den Alliierten besiegten Staates, es war aber auch der Zusammenbruch einer Kirche, die keine Distanz gewonnen und so große Schuld auf sich geladen hatte.
Dass demgemäß mit dem Zusammenbruch und dem Neubeginn auch ein wirklicher Neubeginn der Kirche einhergehen müsse, ist unter den hellsichtigen Vertretern vor allem der sog. Bekennenden Kirche schon vor Kriegsende gesehen und diskutiert worden. Bedurfte es nicht, so trieb es viele Pfarrer um, bedurfte es nicht einer „Neuen Kirche“, die in ihrer Verkündigung nach einer ganz neuen Sprache suchte, die eigene Schuld bekennend, um so wieder zu ihrem Kern zurück zu finden und Teil der weltweiten Ökumene werden zu können?
Heinrich Grüber teilte mit großem Nachdruck diese Haltung. Ihm war und blieb es sehr eindrücklich, wie ihm der Freund, der in den letzten Kriegstagen in Moabit ermordete Friedrich Justus Perels mit auf den Weg gab: „Wenn Sie diese Zeiten überleben sollten, dann sorgen Sie dafür, daß wir nicht wieder zu einer Restauration kommen…, sondern zu einer Reformation geführt werden.“
Dass 1945 der 54jährige Heinrich Grüber eine bestimmende Rolle bei diesem Neubeginn der Kirche spielen würde, unterlag keinem Zweifel. Nach Pfarramtsstationen in Dortmund und Düsseldorf in den 20er Jahren, nach der Leitung eines kirchlichen Erziehungsheimes in Templin, begannen ab 1936 von seiner Pfarrstelle in Berlin-Kaulsdorf aus die Hilfsaktionen für jüdische Mitbürger, die 1938 zu der Gründung des „Büros Grüber“ führte, das in engster leitender Zusammenarbeit mit Werner Sylten seinen Sitz ab 1939 einen Steinwurf von hier entfernt „An der Stechbahn“ neben dem Schloss hatte. Im Dezember 1940 verhaftet, war Heinrich Grüber bis zu seiner Entlassung im Juni 1943 in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau inhaftiert. In engem Austausch mit einzelnen Männern des Widerstands und mit Kreisen der Bekennenden Kirche war Grüber schon in der Zeit bis zum Kriegsende ein kirchlicher Vordenker für die „Zeit danach“.
Folgerichtig wurde Grüber sofort nach Kriegsende „gebraucht“: die Stadt Berlin brauchte ihn als Mitglied des neuen Magistrats, um zu helfen, die großen Not in der Stadt zu lindern; und natürlich brauchte die Kirche ihn: als Mitglied der ersten Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg, als Bevollmächtigter des Evang. Hilfswerks für die Sowjetische Besatzungszone, als Präsident der Bahnhofsmission, als Leiter der neuen Hilfsstelle für ehemals Rassenverfolgte und als Gesellschafter der Evang. Verlagsanstalt. 1949 kam dann noch die wichtige Funktion als Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Regierung der DDR hinzu.
Trotz der Vielzahl der Ämter und Funktionen war und blieb Heinrich Grüber – Pfarrer. Es war sein Wunsch, von dem Pfarramt in Kaulsdorf in die Propstei St. Marien/St. Nikolai zu wechseln. Die Begründung, die sich in seinen „Erinnerungen“ findet, ist bezeichnend und sprechend für die gesamte Geschichte unserer Gemeinde: die Gemeinde war nämlich so klein, dass die großen, übergeordneten kirchlichen Aufgaben mit der Gemeindearbeit strukturell am ehesten vereinbar waren. Wir kennen diese Verschränkung von Ortsgemeinde und gesamtkirchlicher Arbeit aus dem Wirken vieler Pröpste; und wir kennen dieses Miteinander auch aus dem letzten Visitationsbericht, den wir selbst im letzten Jahr, aus unseren eigenen Erfahrungen gespeist, verfasst haben…
Am 5. August 1945 wurde Heinrich Grüber in der Marienkirche, in der notdürftig die Trümmer weggeräumt worden waren, in sein Amt eingeführt. „Aber was noch nicht gewesen ist in der Geschichte dieses Propstamts“, so Bischof Dibelius bei der Einführung, „ist dies, daß ein Propst eingeführt wurde, während St. Nikolai in Trümmern liegt, und daß die Trümmer der Kirche ja nun das Wahrzeichen einer zerstörten Stadt Berlin sind.“
Das folgende Ereignis aus unserer Gemeinde, das zeigt, wie sehr „die große Politik“ immer wieder auch die Kirchengemeinden unmittelbar betraf:
Der Evangelische Pressedienst meldete am 27. 02. 1953: „Der im 41. Lebensjahr stehende Reinhold George ist am Donnerstagabend nach einem Gottesdienst in der im Ostsektor gelegenen Marienkirche von Angehörigen des Staatssicherheitsdienstes ´festgenommen worden. Pfarrer George … wollte sichh nach dem Gottesdienst von der Kirche zu seinem Jugendkreis in das Heinrich-Grüber-Haus begeben und wurde auf dem Wege dorthin im Vorhof verhaftet. Nähere Einzelheiten über die angeblichen Gründe dieses Vorgehens sind bisher nicht bekannt.“
Es folgte sodann ein Artikel in der Jungen Welt mit dem Vorwurf, Pfarrer George würde die Jugendlichen „verderben“. Heinrich Grüber machte daraufhin einen Aushang im Schaukasten an St. Marien, mit dem Artikel aus der Jungen Welt und einem eigenen Aushang daneben: „Wir können zu diesen Ausführungen nur sagen: Niedriger hängen! Wir alle, die wir Pfarrer George kennen, müssen Wert darauf legen, daß diese Dinge allen Gemeindegliedern bekannt werden, damit sie einsehen, welche Kräfte es sind, die den Kirchenkampf vom Zaun brechen.“ Und als der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, so vermerkt es das Protokollbuch des Gemeindekirchenrates im Mai 1953, Grüber bekannt gibt, dass mit den Treffen der Jungen Gemeinde gegen gesetzliche Anordnungen verstoßen werde, erklärt Grüber, dass er für regelmäßige kirchliche Veranstaltungen Verbote nicht entgegennehmen und die daraus entstehenden Konsequenzen tragen werde.“
Hier steht, in einem Vorgang, der für viele andere steht, Heinrich Grüber für eine mutige und widerständige Kirche, die um ihres Glaubens sich aller Kompromisse verweigert.
In einer Predigt aus dem Jahr 1955 heißt es: „Die bekennende Kirche muss zu einer helfenden und dienenden Gemeinde werden. … zum Träger des Diakonats…. Die Einheit von Wort und Werk, die unser heutiges Evangelium fordert, zerbricht immer mehr. Das gesprochene Wort und das gelebte Zeugnis dürfen nicht auseinanderfallen. Sie müssen nicht nur einander ergänzen, sondern auch bedingen. … Da hebt der Irrweg der Kirche an, wo eine Kirche nicht dienende, suchende und helfende Kirche bleibt, sondern wo sie herrschen will, wo sie auf Rechtsansprüche pocht, wo sie Machtpositionen neben säkularen Machtpositionen ausbauen will und wo bei aller kirchlichen Wohlfahrtsarbeit nicht als Letztes und Grundlegendes durchklingt: ‚Dir sind Deine Sünden vergeben.‘“ Als „politisches Diakonat“ hat Grüber an anderer Stelle seine Aufgabe benannt – aber so, dass sich Kirche dabei selbst immer von neuem rücksichtslos selbst aufs Spiel setzt.
In einem Vortrag aus dem Jahr 1946, den Grüber auch in unserer Gemeinde, nämlich im Petri-Gemeindesaal gehalten hat, macht er deutlich: „Die Kirchen sind gewiesen an die Menschen eines Volkes, aber ihre Aufgabe und ihr Auftrag bleiben übernational. Wenn sich das Schwergewicht der Arbeit in der Kirche nach der einen oder anderen Seite verlagert, entsteht ein Zerrbild der Kirche. Die Kirche darf sich weder ausschließlich in den Dienst eines Volkes stellen, noch darf sie die Nöte und Anliegen des Volkes, in dessen Raum sie arbeitet, übersehen. Aus dieser Spannung, der die Arbeit der Kirche unterliegt, ergibt sich immer wieder ihr besonderer Auftrag.“ Selbst heute noch mutet dieser Satz für unsere kirchliche Arbeit modern an: Keine Kirche in Berlin ohne Kirche in Bukarest oder Syrien oder in der Zentralafrikanischen Republik. Und es ist ja sehr auffallend, wie international kirchlich Heinrich Grüber agierte, mit seinen Kontakten, etwa zu M. L. King, oder mit seinen vielen Reisen.
Nach dem Mauerbau 1961 ließen die DDR-Mächtigen Grüber nicht mehr nach Ost-Berlin einreisen, so dass er sein Amt als Propst nicht mehr vor Ort ausfüllen konnte.