Der Berliner Totentanz ist ein über 22 Meter langes spätmittelalterliches Wandgemälde in der Turmhalle der Marienkirche zu Berlin vom Ende des 15. Jahrhunderts. Die fast lebensgroßen Figuren sind in einer besonderen Weise miteinander und nacheinander angeordnet: Je ein Vertreter der geistlichen und eine:r der weltlichen Ständereihe bilden ein Paar, in der Mitte gehalten und geführt von einer tänzelnden Todesgestalt, einer in Tuch gehüllten, einem Skelett ähnelnden Figur. Dazu eine weitere Figur zu Fuße des Franziskanermönchs am Anfang und eine Kreuzigungsgruppe in der Mitte.
Unterhalb der Paare stehen jeweils zwei Strophen zu sechs endgereimten Versen in mittelniederdeutscher Sprache, Berlins ursprünglicher Sprache. Die Dialoge sind die ältesten erhaltenen Stücke Berliner Literatur überhaupt. Von den ursprünglich 60 Figuren sind 54 teilweise, von den ursprünglich 360 Versen sind etwa Dreiviertel ganz oder teilweise erhalten.
Der Tod spricht jede:n einzelne:n Todgeweihte:n gezielt an: er holt ab, er geht, er schreitet, er tanzt voraus, wohl wissend um die Versäumnisse und Verfehlungen des jeweils angesprochenen Menschen. Niemand entgeht ihm. Keine:r kann Aufschub gewinnen, um Wesentliches noch „in Ordnung“ zu bringen. Der Tod kommt plötzlich und unvorhergesehen. In dieser gemalten Theologie des Mittelalters zielt der Tanz mit dem Tod auf das Leben: die Lebensführung prüfend, die Einwilligung in das Unvermeidliche erwartend und zugleich den Blick über die Grenzen des Lebens hier und jetzt hinaus. Der Berliner Totentanz scheint es dabei gnädig mit seinen Abgeholten zu meinen. Er hat in seiner Mitte, – und das ist eine Besonderheit, – die Kreuzigungsszene Jesu Christi. Dieser hat den Tod überwunden und sein Leiden und Sterben werden in seiner Auferstehung verwandelt.
Der Totentanz in der evangelischen Berliner St. Marienkirche ist einer der letzten umfangreich am ursprünglichen Ort erhaltenen mittelalterlichen Totentänze nördlich der Alpen. Schon deshalb ist er als Quelle für diese Bildgattung unschätzbar. Aber auch im Vergleich mit anderen europäischen Totentänzen von Frankreich bis zur Adria besitzt das Berliner Werk einen weit über die Mark Brandenburg hinausreichenden künstlerischen Rang. Über den oder die Bearbeiter:innen des Textes und den Maler des Bildes ist derzeit nichts bekannt. Das Berliner religiöse Kunstwerk ist als Teil der niederdeutschen Totentanztradition mit dem Lübecker Totentanz von 1463, dem Lübeck-Revaler Totentanz und einem Lübecker Druck von 1520 am ehesten verwandt. Im Text sowie in Aufbau und Zusammensetzung der Ständerevue ist der Berliner Totentanz der Gattungstradition verpflichtet. Die Kreuzigungsgruppe stellt jedoch den kompositorischer und geistig-inhaltlicher Mittelpunkt des Gemäldes dar.
Die St. Marienkirche hat ihren Totentanz wiederholt im Verborgenen gehalten: Vermutlich waren Bild und Text im Zusammenhang mit der barocken Renovierung Anfang des 18. Jahrhunderts mit Kalktünche übermalt worden. Und damit wurde die Erinnerung an ihn scheinbar für Jahrzehnte und Jahrhunderte aus dem Gedächtnis der Stadt und der Gemeinde getilgt. Freigelegt wurde der Totentanz nach einer Routineinspektion in der St. Marienkirche 1860 unter der Leitung von August Stüler, der sogleich den Kunstwissenschaftler Wilhelm Lübke mit einband. So wurde diese spektakuläre Wiederentdeckung zwar wissenschaftlich genau dokumentiert, – selbst die Verluste durch Umbaumaßnahmen und schwer lesbare Stellen der vielen Verse. Doch danach entschied man sich für eine Restaurierung nach dem herrschenden Zeitgeist. 1861 trug der Kunstmaler Friedrich Fischbach leuchtende Farben auf, ergänzte fehlende Figuren, schmückte die Gewänder aus.
Professor Jan Raue, Spezialist für Konservierung und Restaurierung an der Fachhochschule Potsdam, begleitet und beaufsichtigt die jetzige „ReRestaurierung“ des schwer in Mitleidenschaft gezogenen Kunstwerkes. Die anmutigen Figuren, gemalt in der Secco-Technik um 1470, werden soweit möglich wieder freigelegt und erhalten. Viele Teile sind nur noch schemenhaft erkennbar, weil ihm mehrere Faktoren schadeten: die Übertünchung 1729, die Übermalung 1861, die Wiederfreilegung nach 1955, die vielen Restaurierungsversuche der nachfolgenden Jahrzehnte mit experimentell eingesetzten Festigungsmitteln, die sich als ungeeignet erwiesen, entfernt wurden, gefolgt von neuen Rettungsversuchen. Hinzu kommen aufsteigende Feuchtigkeit im Gebäude, Versalzung im Backsteingemäuer, defekte Fallrohre, knabbernde Nagetiere, die Blitzlichtgewitter interessierter Besucher:innen.
Lösungen zu finden, um dieses Denkmal langfristig zu erhalten, stellt eine besondere Herausforderung dar und bleibt aktuelle und zukünftige Aufgabe an St. Marien: Eine speziell gefertigte Glaswand anstatt des alten Ganges soll Klimaschwankungen vom Gemälde fernhalten. Durch die Neupräsentation wird auch die hohe Turmhalle wird wieder erlebbar. Mit deren Instandsetzung 2021 und 2022 nach Entwürfen und unter Leitung des Büros Jordi & Keller Architekten konnte, wie Jan Raue es formuliert, eine „klare, ruhige Umgebung“ für den Totentanz, um das „wichtigste Kunstwerk der Marienkirche in einen würdigen Rahmen“ zu setzen, realisiert werden. Der Berliner Totentanz in seinem „reduzierten Erhaltungszustand“ lesbar bleiben. Die schwachen Konturen und blassen Farben sind natürlich nicht mehr so deutlich oder schillernd und berühren doch in der ihnen innewohnenden ursprünglichen Grazie.